Zwischen Kunst und Therapie

Sowohl zu Beginn als auch im Laufe unserer gemeinsamen künstlerischen Arbeit in der Gruppe UNART haben sich einige grundsätzliche Positionen und Voraussetzungen herausgebildet und bewährt.

Wir haben das Atelier als Ort der gemeinsamen Arbeit bewusst außerhalb der Klinik gelegt und wir verzichten auf eine gezielte therapeutische Ausrichtung. Nur unter diesen Voraussetzunge scheint uns ein gemeinsam künstlerischer Prozess in einer offenen Praxis vor jeglicher Theorie und Zweckgebundenheit möglich. Wir haben das Projekt aus dem Klinikalltag herausgegliedert und vermeiden weitgehend strukturelle und inhaltliche Vorgaben, um eine möglichst große Offenheit für alle sich entwickelnden Prozesse und spontanen bildnerischen Produktionen zu erreichen. Im Gegensatz zu „spezialisierten Räumen“ in der Klinik (Matschraum, Beschäftigungstherapieraum, Videoraum, etc.)

soll unser Atelier alle möglichen Verwandlungen und Imaginationen zulassen können. Entsprechend stellen wir einfache und vielfältig verwendbare Materialien in ausreichender Menge, wie Papierrollen, Abtönfarben, Maschendraht, Pigmente, Kleister, Gips, Holz, Ton, Sperrmüll, etc. zur Verfügung.

Als wesentliche Bedingung gilt für uns, den Patienten nicht als hilfloses, krankes und unmündiges Wesen zu behandeln und die oft unvermeidlich entstehende Bestärkung der Sündenbockrolle und Versagerfunktion des Kindes und Jugendlichen durch die stationäre Aufnahme fortzusetzen. Der Verzicht auf die therapeutische Intervention im ureigensten und guten Sinne ist dadurch paradoxerweise selbst wiederum therapeutisch wirksam. (EGGERS 1985). Die Rollenverteilung helfender Therapeut – hilfebedürftiges Kind wird aufgegeben und das Geschehen zentriert sich nicht auf die Erkrankung.

Die unumgängliche Bedingung der Verbindung mit der Klinik ist dadurch gegeben, dass nicht nur Künstler, sondern auch Mitarbeiter der Klinik gemeinsam mit den Patienten künstlerisch arbeiten und zum festen Stamm der Gruppe gehören. (Nach mehr als zwanzig Jahren UNART besteht die Verbindung mit der Klinik durch regelmäßige Übergaben und Teilnahme an Visiten und gelegentlichen Besuchen von Mitarbeitern der Klinik, die mittlerweile nicht mehr zum festen Stamm gehören. Anmerkung Eva Cukoic, 2006).

Eine Reflektion der bildnerischen Vorgänge und der verschiedenen Beziehungsmuster sowohl hinsichtlich des Gruppenprozesses als auch der Entwicklung einzelner Patienten wird durch eine dreiwöchentliche Supervision durch einen externen Psychoanalytiker ermöglicht. Den einzelnen Nachmittagen vorangestellte Besprechungen und regelmäßige Treffen aller Mitglieder dienen der weiteren Orientierung des therapeutischen Ablaufs.

Mittels Ausstellungen soll der künstlerisch-bildnerische Ausdruck gerade der sozialen Randgruppe psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher wieder ins „öffentliche Bewusstsein“ integriert werden. Die Verunsicherung, die eine Öffnung der ins Private einer klinischen Behandlung verdrängten Darstellung von Konflikten und elementaren Gefühlszustände auslöst, war bei den letzten beiden Ausstellungen im Landeshaus in Köln und in unserer Klinik spürbar.

Das letzte Beispiel aus der Praxis schildert eine Jugendliche, welche seit mehreren Jahren an einer ausgeprägten Pubertätsmagersucht litt. Mit ungeheurem Geschick malte sie überlebensgroße Bilder auf eine hin gehängte Papierfläche und zum ersten Mal in der Kunstgruppe direkt auf die Wand. Nacheinander entstanden ein „trauriger Clown“, ein „Löwe“ und ein „Zombie“. Der ausgeprägte Ästhetizismus der Bilder wurde in der Gruppe bewundert, entsprach aber auch einem regelmäßig anzutreffenden „Sinn für Schönheit“ bei Jugendlichen mit der genannten Problematik. Er lässt sich als psychische Reaktionsbildung auf die ständigen, meist heimlichen und gänzlich „unästhetischen“ Versuche, beispielsweise Nahrungsmittel wieder zu erbrechen, verstehen. Er könnte aber auch als direkter Ausdruck eines ätherischen Körper-Ideals verstanden werden. Jeder Hinweis auf leibhaftiges Leben erscheint getilgt, hinterlassen werden in den Bildern reine „Geisteswesen“ und damit letztlich

tote Körper. Diese Funktion der Bilder wird besonders in der direkten Wandbemalung deutlich, bei der sich die Jugendliche als körper- und zeitlose Illusion verewigen kann. Der direkte Verweis auf sich selber in den Bildern wird immer wieder betont: “Der Löwe bin ich, der Zombie, die Tatzen auf dem Boden bin ich auch, etc.“.

Später baut eine Kunststudentin ein Boot. Ein großes Laken wird zum Segel, auf das sie mit roter Farbe den Vornamen des Mädchens schreibt. Der Name wird damit dem Wind zugeordnet, das Ideal des ätherischen, gewichtslosen Körpers bildhaft widergespiegelt. Bei der Jugendlichen ruft dies eine betroffen abgewehrte Reaktion hervor.

Das zuletzt gemalte Zombiebild ist in seiner Ästhetik gebrochen und wirkt nachhaltig auf die Gruppe. Eine lebensgroße und geschlechtslose schwarze Gestalt, mit knallrotem, blutendem Herz, langen gelben Haaren, blauem Vampirgebiss, Krallen und einer glühenden rötlichen Umrandung.

Wenn wir abschließend noch einmal die wesentlichen Aspekte des künstlerischen und therapeutischen Standortes unserer Gruppe charakterisieren, können wir zunächst auf einige verwandte Vorstellung bekannter Autoren aus beiden Bereichen zurückgreifen.

Bereits 1952 verweist die vor kurzem verstorbene Pionierin der deutschen Kinderpsychotherapie Frau Annemarie SÄNGER auf die Wichtigkeit von Spiel und bildnerischen Äußerungen für die menschliche Entwicklung und Nachreifung hin. Sie schreibt:

„Spielen hat immer mit inneren Bildern zu tun, ohne Fantasie, ohne Vorstellungskraft kann nicht gespielt werden…. Sein eigentliches, sein wesentliches Sein spricht der Mensch in Bildern und Gestaltungen aus. So wie wir uns unwillkürlich in Bildern aussprechen, so muss naturgemäß auch das Bild uns wieder ansprechen. Es reflektiert, es wirkt zurück. Das ist die eigentliche Wirklichkeit des Bildes, das es wirkt.“ (siehe RUNGE-BEUYS) „Nur soweit die Bilder unser Gemüt in Bewegung bringen, haben sie Wirkung. Hier wird die Koppelung der Vorstellungskräfte und der Gemütskräfte sichtbar. In der Therapie geht es um die Belebung und Entwicklung der Gemütskräfte und der Phantasie. Gemütskräfte, d. h. Gefühl und Bildkräfte sind aufs engste miteinander verbunden und bedingen einander. Sie müssen die Triebkräfte einerseits, Vernunft und Willen andererseits durchtränken, damit sie menschlicher werden.“

Analog formuliert BEUYS (zit. in VISCHER 1986), wenn er den Unterschied von Anschauung und Begriff betont und auf der Notwendigkeit des Bildes beharrt:

„Wenn nur Begriffe einen Wert hätten, dann bräuchte man überhaupt keine Farben, keine Bilder, keine Zeichnungen, keine Imaginationen, Skulpturen, Klänge, Musik, Tanz, Theater, nichts! Alles könnte sich rein wissenschaftlich durch Begriffe verbalisieren. Begriffe sind Strukturen, die auch wichtig sind. Aber wenn sie einseitig auftreten, sind sie natürlich der absolute Tod jedes kulturellen Lebens, …. Die Begriffe werden nach einem halben Jahr absolute Leichen sein, wenn sie nicht ernährt werden durch die Imagination….“

Als Vorbedingung für das Spielen sieht Annemarie SÄNGER die Gewinnung eines Vertrauten an. Danach gewinnt das Kind erst auf dieser Basis das nötige Selbstvertrauen, um aggressive Impulse freisetzen und sich frei spielen zu können. „Der ganze Prozess kann nun autonom verlaufen, wenn es geglückt ist, Phantasie und Emotionalität zu lockern und zu steigern.“

Wir finden hier die erstaunlich aktuelle Parallele zu LYOTARD`s Vorstellung von Therapie. Nach LYOTARD besteht diese in der Ermöglichung und Steigerung der noch durch keinen Sekundärvorgang (z.B. sprachliche Ordnung) gebundenen Gefühle. Nach Annemarie SÄNGER ist das dadurch ermöglichte Spiel „ dem Menschen unabwendbare Formung seiner selbst und ist Mit-Teilung“. „Das reine Spielen des Kindes ohne therapeutische Deutung kann unter bestimmten Voraussetzungen das volle Äquivalent der Analyse beim Erwachsenen sein.“