Das UNaRT-Atelier als heterotoper Ort

Jens Hölmer

Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinem Standardwerk Wahnsinn und Gesellschaft den Begriff der Heterotopie entwickelt und in späteren Abhandlungen immer wieder darauf Bezug genommen. Für Foucault kann als Heterotopie das Narrenschiff gesehen werden, welches den „Irren“ in eine andere Welt beförderte, als ein „schaukelndes Stück Raum“, als einen „Ort ohne Ort“.[1] In einem 1998 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Andere Räume erläutert Foucault, dass es in den „Urgesellschaften“ Orte gab, die als „Gegenplazierungen“ oder „Widerlager“, als „tatsächlich realisierte Utopien“ fungierten.[2] Diese Heterotopien waren Menschen vorbehalten, die sich in einem „Krisenzustand“ befanden und die Foucault daher auch als Krisenheterotopie bezeichnet. Heute werden diese Krisenheterotopien durch so genannte Abweichnungsheterotopien abgelöst zu denen Gefängnisse, Altenheime und psychiatrische Kliniken zählen. Hier findet eine Ausgrenzung von der Gesellschaft statt, um die Norm vor der Abweichung zu schützen.

Das UNART-Atelier kann auch als ein ´Ort ohne Ort`, als eine Gegenplazierung oder als ein Widerlager, als eine tatsächlich realisierte Utopie gesehen werden, in dem wirkliche Räume innerhalb der Kultur „gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“[3]

Somit ist das Atelier bei UNART, als Ort der Begegnung, auch eine Krisenheterotopie. Hier treffen sich Menschen, die sich in der Beziehung zur Gesellschaft in einem Krisenzustand befinden. Die im Atelier zur Verfügung stehenden künstlerischen Medien werden zur psychologischen ´Krisenbearbeitung` herangezogen. Alle UNART-Künstler weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich derzeit in einer seelischen Krise befinden. Aufgrund dieser werden sie außerhalb des UNART-Projektes in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt. Befinden sie sich im UNART-Atelier und nehmen am Kunstprojekt teil, dann sind sie an einem Ort, der zugleich ein ´Nicht-Ort` ist. UNART ist wie jener von Foucault beschriebene Spiegel; UNART ist eine Utopie, ein ´Ort ohne Ort`, indem ich mich da sehe, wo ich nicht bin, ein virtueller Ort und zugleich stellt der Spiegel eine Heterotopie dar, denn er existiert wirklich, er schickt den Betrachter auf den Platz zurück, den er „wirklich“ einnimmt.

So sind auch das UNART-Atelier und die Konzeption des Kunstprojektes UNART dann ein Projekt und keine virtuelle Erscheinung, wenn der UNART-Besucher aus der Betrachterposition herausgeht und am Kunstgeschehen teilnimmt. Bleibt er sozusagen vor dem Spiegel stehen und nimmt allein die Kunst als utopischen Raum wahr, als virtuelles künstlerisches Projekt, so bleibt UNART für den Besucher eine „Utopie“. Es kann kein Ort künstlerischen Handelns, kein Bezug zum Raum und zum Selbst hergestellt werden. Der UNART-Besucher tritt nicht in Interaktion mit dem Raum und seinem Ich. Er bleibt in einer beobachtenden Position und verharrt in der Perzeption.

Stellt er jedoch einen Bezug zu seiner Wahrnehmung und seinem Selbst her und damit zu dem ihn umgebenden Raum, so beginnt eine „künstlerische Kommunikation“. Dann wird der Ort, das UNART-Atelier, ein heterotoper Ort und der Teilnehmer Teil des Kunstprojektes und somit UNART-Künstler. Er hat dann auch die Möglichkeit, seine psychologischen  Probleme, seine Krise nicht als Abweichung zu erfahren, sondern jene in der Heterotopie UNART mit einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dann fungiert UNART als Krisenheterotopie, die ihm neue Möglichkeiten eröffnet. UNART kann jedoch keinen Besucher dazu „zwingen“, diese Heterotopie wahrzunehmen, sondern kann den Teilnehmern nur viele verschiedene Wege zum Eintritt in die Krisenheterotopie aufzeigen, um somit UNART-Teilnehmer beim Kunstprojekt zu werden und sich auf die Schiffsreise zu begeben. Ob und wieweit er bei dieser Reise auf offenem Meer seine Krise zu bewältigen versucht, ist die Angelegenheit des Teilnehmers selbst. Auf dem Schiff befindet er sich jedoch schon einmal und die „Crew“ tut alles ihr Erdenkliche, ihm eine angenehme Reise mit verschiedenen Reisezielen zu ermöglichen. Jeder kann diese Reise auswählen, wichtig ist nur, dass ihn  die Reise interessiert.

Das Atelier als intermediärer-, als Spiel- und Beziehungsraum

Der heterotope Ort, der zugleich ein „Nicht-Ort“ ist, ist eine realisierte Utopie und kann im „Dazwischen“ verortet werden. Es handelt sich um einen Ort der Möglichkeiten, um einen imaginativen Raum, der mit der realen Umwelt interagiert. Er kann in der Schnittstelle zwischen „Innen“ und „Außen“ lokalisiert werden, er ist räumlich gesehen ein Bereich ähnlich einer „Schwelle“. In diesem Schwellenbereich ist eine ungezwungene kreative Interaktion mit der Umwelt möglich, dort wo innere und äußere Welt  aufeinander treffen wird „Spiel“ möglich.

Dies sieht auch der Objekt-Beziehungstheoretiker, Kinderarzt und Psychotherapeut Donald W. Winnicott so.

Für Winnicott ist die Fähigkeit des Spielens ein nicht unwichtiges Element der Psychotherapie. Er formuliert in diesem Zusammenhang die These:

„Psychotherapie geschieht dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden: der des Patienten und der des Therapeuten. Psychotherapie hat mit zwei Menschen zu tun, die miteinander spielen. Hieraus folgt, daß die Arbeit des Therapeuten dort, wo Spiel nicht möglich ist, darauf ausgerichtet ist, den Patienten aus einem Zustand, in dem er nicht spielen kann in einen Zustand zu bringen, in dem er zu spielen imstande ist.“[4]

Das UNART-Atelier entspricht als Künstleratelier genau diesen Vorstellungen des Experimentierens und Spielens. Das Atelier versteht sich im Sinne Winnicotts nicht nur als „intermediärer Raum“, in dem „innere Realität“ und „äußeres Leben“ einfließen[5], sondern auch als einen Raum, wo zwangfreies Interagieren mit der Umgebung, der Objektwelt und dem ´Inneren des Selbst`, das Spielen und Experimentieren ermöglicht werden.

Es entsteht somit ein sicherer, geschützter Raum, der als „potentieller Raum“ fungiert, ein Ort für das Spielen, ein Ort des Handelns, ein Erlebnis- und Erfahrungsraum.

In diesem „Raum der Möglichkeiten“, können sich die UNART-Künstler kreativ-künstlerisch entfalten und ihr Selbst entdecken. Dort gibt es Platz für „Übergangsphänomene“ und es können Dinge und Objekte, die Materialien, Bilder, Gestaltungen und Skulpturen zu „Übergangsobjekten“[6] werden. In diesem „intermediären Bereich von ´Erfahrungen´, wo „Äußeres“ und „inneres“ sich begegnen, darf sich das „Individuum von der lebenslänglichen menschlichen Aufgabe [ausruhen], innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten.“[7]

Der UNART-Mitarbeiter kann im Winnicott`schen Sinne durch seine Beziehungsbasis die „genügend gute >Mutter<“[8] repräsentieren, die die Illusion und Desillusionierung in eine angemessene Balance bringt. UNART versucht den UNART-Künstlern einen intermediären Erfahrungsbereich anzubieten, um somit eine funktionierende, ´gesunde` Beziehung zwischen sich und der Welt aufzubauen. Denn dieses Beziehungsgeflecht bildet die Basis für Imagination und Spiel, für Selbstwahrnehmung und Bildung von Symbol und Sprache, für Entwicklung einer stabilen inneren Realität, einer Ich-Identität und einer Persönlichkeit, die sich ihres „Selbst“ bewusst ist.

Die Beziehungsarbeit zwischen UNART-Mitarbeitern und UNART-Teilnehmern, erschafft einen „Raum der Möglichkeiten“, einen imaginativen Raum, einen Raum des Spiels, des Experimentierens und Ausprobierens, einen zwangfreien Ort im „Dazwischen“, ….. so dass ein therapeutisch wirksamer intermediärer Erfahrungsbereich entstehen kann.


[1] Michel Foucault : Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973.

[2] Michel Foucault : Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1998, S. 34-46.

[3] Foucault 1998, S. 40.

[4] Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1997, S. 49.

[5] Ders., S. 11.

[6] Ders., S.13.

[7] Ders., S.11.

[8] Ders., S. 20.