„Klangunarten“, „Lichträume – Raumklänge“, „Heulsusen und Jammermatratzen“

KOPFARBEIT

Christian Müller, 2010

Die Vielfalt der im Unart- Atelier vorhandenen Materialien und Objekte inspiriert manche Teilnehmer der Unart- Gruppen auch  dazu, diese nicht nur auf ihre visuellen, sondern auch auf ihre klanglichen Qualitäten hin zu untersuchen. Papprollen oder Schläuche werden zu Hör-Rohren, durch die man verschiedenste Geräusche auf ungewohnte Weise verfremdet wahrnehmen kann. Oder diese Röhren werden genutzt, um mit dem Mund urige Laute zu produzieren, z.B. auch, indem sie in einen Eimer mit Wasser getaucht werden, wodurch der gesangliche Vortrag eine blubbernde Note erhält. Ein nächster Schritt ist die Entstehung von Klangobjekten, also ein bewusstes Arrangieren von im Atelier befindlichen Objekten und Materialien, um mit ihnen bestimmte Klänge zu erzeugen. Hierzu gehört der so genannte „Klageapparat“, ein drehorgelartiges Objekt, das beim Kurbeln quietschende und knarzende Geräusche von sich gibt und dem Benutzer die Tätigkeit des Klagens abnehmen soll. Oder der „Flaschenrock“, bei dem tanzende Teilnehmer an Gummibändern befestigte leere Plastikflaschen um die Hüfte tragen, die bei jeder Bewegung klackende Geräusche von sich geben und so die Choreografie lautmalerisch grundieren . Oder das „Stuhlcello“- auf einem zwischen Lehne und Sitzfläche eines Stuhls gespannten Klebeband wird mit zwei Stöcken gespielt, wobei stufenlos Töne unterschiedlicher Höhe erzeugt werden können. Diese Klangobjekte werden im Laufe der Jahre immer wieder modifiziert, so ist der „Klageapparat“ Prototyp einer ganzen Reihe von Nachfolgemodellen, die verschiedene klangliche Optionen in einem Arrangement zusammenfassen. Mittlerweile gibt es z.B. einen „Klangtisch“, ein „Klangschiff“ oder eine „Spieluhr“ – ein gespannter Hebel schnellt beim Auslösen auf eine Aluminiumplatte, die eine Art  oszillierend- jaulenden Ton von sich gibt, eine Holzkugel rollt in einer Schale ähnlich wie bei einem Roulettetisch im Kreis oder Nägel in einem Nudelholz streichen an Blechstreifen vorbei, die eine entfernt an „Frere Jaques“ erinnernde Melodie abgeben. „Darüber hinaus werden auch  verschiedene Instrumente nachgebaut: Trommel, Kalimba, Laute, Vibraphon, Trompete, Flöte etc.  Eine erste Klang- Performance mit diesen Objekten führte Unart 2005 unter dem Titel „Klangunarten“ an der Folkwang- Musikhochschule auf. Dabei konnte das Publikum nicht unterscheiden, welcher der Mitwirkenden psychiatrischer Patient war und welcher nicht.

Klang in einem allgemeineren Sinne verstanden als Zusammenspiel von Licht und Raum bzw. Licht und Architektur war Gegenstand des Projekts „Lichträume- Raumklänge“ im Jahr 2006. Dazu wurden mit den Patienten Exkursionen zum Kölner Dom, zur Wallfahrtskirche in Neviges sowie zur Raketenstation Insel Hombroich unternommen. Eine Ausstellung, ebenfalls in der Folkwang- Musikhochschule zeigte die Ergebnisse dieses Projektes: Malereien und Zeichnungen zum Thema, von Patienten gebaute Modelle von Bühnenräumen mit einer eigens dazu hergestellten Klangsequenz, die mittels Knopfdruck abgerufen werden können. Oder perforierte, speziell mit farbiger Folie oder anderen transparenten Materialien bearbeitete Pappröhren. Schaut man in sie hinein, so eröffnet sich ein ganz eigener, farbiger Lichtraum.

Im November 2007 nahm Unart an der Ausstellung „Seitenwechsel- vom Bild zum Klang, vom Hören zum Sehen“ in der Philharmonie Essen teil. Kunstprojekte im psychiatrischen Umfeld aus ganz Deutschland waren zur Teilnahme eingeladen. Unart e.V. führte zu Eröffnung eine 45- minütige Klangperformance unter dem Titel „Von Heulsusen und Jammermatratzen“ auf. Eine so genannte „Klangsänfte“ wurde zu Beginn von zwei Aufführenden auf die Bühne der Philharmonie getragen. Sie besteht aus einem Holzgestell, an dem verschiedene Kehrbleche und Eisenstücke herabhängen und auf dem ein leerer Kinderstuhl mit einer darüber schwebenden Glocke aus Ton befestigt ist. Beim Tragen der „Sänfte“ entstanden an Kirchglockengeläut erinnernde Töne. Die Performance- Künstler betraten danach die Bühne, indem sie sich gegenseitig auf quietschenden Stühlen über den Boden des Zuschauerraums zogen. Aus dünnen Schläuchen auf eine Blechdose fallende Wassertropfen erzeugten ein rhythmisches Geräusch, eine junge Frau strich mit den Fingern über die  Stacheln eines Kaktus, ein Miniatur- Riesenrad mit kleinen Glocken an den Gondeln drehte seine Runden. Mit Akkordeon, E-Gitarre und Gesang wurde improvisiert, auf Laubsägen und einer bunten, selbstgebauten „Gummizither“ gezupft, auf einer Holzplatte das Publikum mit Kohle portraitiert, wobei die kratzenden Geräusche des Zeichenstifts elektronisch verstärkt wurden.  Oder die „Schleudertrompete“  wurde betätigt. Diese besteht aus einem Gummischlauch, an dem auf der einen Seite ein Trompetenmundstück  und auf der anderen ein Plastiktrichter befestigt ist. Während man in das Mundstück bläst, lässt man den Gartenschlauch mit dem Trichter wie ein Lasso über dem Kopf kreisen. Anschließend wurde durch eine Papier- Flüstertüte wahllos aus Kunstzeitschriften älteren Datums zitiert, dann der ziemlich aussichtslose Versuch unternommen, die Texte aus Glückskeksen beim Verspeisen derselben zu rezitieren und gleichzeitig eine Apparatur, die den Kopf der Vortragenden mit einer riesigen Lupe vergrößert, auf den Schultern zu balancieren. Zum Schluss wurden aufgeblasene, mit Kindertröten versehene Luftmatratzen auf die Bühne gebracht, auf die sich die Performance- Künstler warfen, sodass aus ihnen die Luft wie aus einem Dudelsack quäkend entwich. Parallel dazu hielten sich andere mit Gesichtern bemalte Luftballons vor den Kopf, die beim Austreten der Luft heulende Geräusche machten, wobei die Ballons mit den Gesichtern schrumpften. Auch hier konnte das Publikum nicht zwischen Patienten und Künstlern differenzieren.

Diese Indifferenz ermöglicht den Unart- Künstlern (Patienten oder ehemaligen Patienten) sich in der Rolle des Künstlers auszuprobieren, d.h. ohne einen von außen definierten Zweck zu agieren.  Im Schutz dieser Rolle kann er in die gesellschaftliche Öffentlichkeit treten, sich selbst erproben und sein durch die psychische Krise verletztes Selbstwertgefühl neu entwickeln. Dies ist ein wichtiger therapeutischer Effekt, der durch das gleichberechtigte Arbeiten und Ausstellen hervorgerufen, aber nicht explizit verbal angekündigt oder verordnet wird. Hinter den auf den ersten Blick absurd oder dilettantisch erscheinenden Vorführungen mit armselig anmutenden Materialien offenbart sich eine Poesie,  die das Verletzbare, Unfertige und Widersprüchliche integriert und so einen Moment der Schönheit aufscheinen läßt.